Gib ihm Zeit.
Dein Beitrag ist ja schon etwas älter, aber ich schreibe jetzt trotzdem einen Kommentar dazu. Vor einigen Jahren war ich in derselben Situation, nur auf der "anderen" Seite: ich war mit einer Frau sehr gut platonisch befreundet und mußte irgendwann feststellen, daß ich mich mehr für sie interessierte als gut war. Wir haben uns dann darauf geeinigt, mal eine Weile den Kontakt ruhen zu lassen und dann zu sehen, wie es sich entwickelt.
Erlaube mir, ein wenig auszuholen und mit der Frage anzufangen, wie sowas zustandekommt. Wie andere Freundschaften entsteht auch eine zwischen Mann und Frau dadurch, daß man sich einfach gut versteht, die Gegenwart des anderen, gemeinsame Unternehmungen und die Gespräche schätzt. Man schätzt sich also als Mensch, nicht aber als Person des anderen Geschlechts. So weit, so gut. Solange es so bleibt, funktioniert es auch super. Nun entwickelt sich eine Freundschaft aber über die Zeit weiter, und hier liegt der Hund begraben. Bei einer Freundschaft zwischen gleichgeschlechtlichen Leuten (oder auch Leuten unterschiedlichen Geschlechts, die sich aber nicht für die andere Seite interessieren) bleibt idealerweise alles beim alten und man unternimmt mal mehr, mal weniger zusammen, oder aber man versteht sich irgendwann aus beliebigen Gründen nicht mehr so gut, streitet sich, und irgendwann denkt man "Was für ein Trottel" und geht seiner eigenen Wege. Und damit ist es dann auch gut. Die Gefahr, daß man sich zu gut versteht, besteht dagegen eher nicht.
Wenn nun aber ein heterosexueller Mann mit einer heterosexuellen Frau befreundet ist, ist es komplizierter. Man findet sich gegenseitig durchaus interessant und versteht sich gut, sonst wäre man ja auch nicht befreundet. Aber eine gewisse Grenze muß gezogen werden, und so einigt man sich eben darauf, daß man nur platonisch, nicht aber körperlich befreundet ist. Dafür braucht es nun aber ein gehöriges Maß an Selbstkontrolle, einerseits um eines selbst willen, damit die Beziehung nicht zu eng wird, andererseits aber auch, um nicht beim eigenen und anderen Beziehungspartner Eifersucht auszulösen und Schaden anzurichten. Es ist in der Tat leichter, eine Freundschaft zum anderen Geschlecht zu haben, wenn beide in einer gesunden Beziehung sind und die jeweiligen Partner das akzeptieren oder besser auch eingebunden sind. Aber das nur am Rande.
Natürlich kann eine Freundschaft zwischen Mann und Frau in die Richtung kippen, daß man sich einfach auseinanderlebt oder verkracht, wie oben skizziert. Aber sie kann eben auch in die andere Richtung kippen, wenn bei einem der beiden die Selbstkontrolle brüchig wird und man sich nicht nur für den Menschen, sondern auch für die Frau (oder den Mann) zu interessieren anfängt. Das muß nicht mal absichtlich sein; es kann auch einfach unwillkürlich passieren. Und dann wird es schwierig, weil das eben die Grundlagen der bisherigen Freundschaft erschüttert und für sich genommen schon eine Art Vertrauensbruch darstellt. Dieser potentielle Vertrauensbruch steht mMn. auch hinter den vielen anderen Beiträgen hier, in dem es darum geht, gewisse Äußerungen des anderen zu interpretieren. Man vertraut darauf, daß der andere die Freundschaft genauso nur als Freundschaft sieht und hat deswegen feinfühlige Antennen aufgestellt, um eventuelle Abweichungen zu spüren. Etwas zynisch betrachtet ist eine normale, gleichgeschlechtliche Freundschaft also wie ein Wandern am Abgrund, während eine solche zwischen Mann und Frau ein Hochseilakt ist.
Aber nun sei es soweit, daß einer mehr von der Freundschaft will als der andere. Eine Aussprache ist zwar hart, aber man sollte schon mit offenen Karten spielen, um die Freundschaft nicht noch mehr zu belasten; der Vertrauensbruch ist um so größer, wenn man nicht ehrlich zueinander ist. Die Freundschaft dann ruhen zu lassen, damit beide sich erstmal wieder sortieren können, ist eine gute Option. Vor allem jedoch braucht es Zeit; viel Zeit. Und Gespräche mit dem Freund/der Freundin über die Situation richten in der Zeit eher mehr Schaden an als daß sie helfen. Das größte Problem ist, daß die Freundschaft nicht an Streit gelitten hat, sondern paradoxerweise an zu viel Zuneigung. Das wiederum macht es unmöglich, den anderen einfach als Idioten abzutun. Man schätzt ja den Menschen nach wie vor, aber man kann einem anderen Menschen genausowenig böse sein, weil er sich in einen verliebt hat, wie man ihn kritisieren kann, weil er sich eben nicht verliebt hat. Wenn man ehrlich ist, kann man vom anderen nicht mal enttäuscht sein, weil es eigentlich eine nicht rechtzeitig bemerkte Selbsttäuschung war, aus der die ganze Geschichte entstanden ist: man hat meist einfach Signale vom anderen falsch interpretiert und ist dann auf einen abschüssigen Pfad geraten, an dessen Ende dann das bekannte Ergebnis stand. Nur - diese Geschichte muß man selber überdenken und philosophisch verarbeiten, und dazu ist Distanz vonnöten.
An deiner Stelle würde ich ihm also Zeit geben und ihn fürs erste in Ruhe lassen, wie auch meine Vorrednerin schon sehr treffend geschrieben hat. Es ist für ihn sicher nicht leicht (genauso wie für dich), aber du hilfst ihm am meisten, wenn du ihm nicht zu helfen versuchst. Die Zeit heilt alle Wunden; irgendwann ist die Erinnerung nur noch wie eine alte Narbe, die gelegentlich noch etwas schmerzt, und noch etwas später ist es dann auch soweit, daß man sich erinnert, mal eine beste Freundin/einen besten Freund gehabt zu haben, ohne den/die man nicht der Mensch wäre, der man heute ist; man wünscht ihm/ihr nach wie vor nur das beste, aber lebt ansonsten sein eigenes Leben.
Wenn du noch Interesse an ihm hast, kannst du ihn aus sicherer Entfernung (z. B. über gemeinsame Bekannte) als Zuschauer begleiten und dir berichten lassen. Wenn du den sicheren Eindruck hast, daß er sich wieder gefangen hat, könntest du vielleicht mal einen Versuchsballon steigen lassen. Schreib ihm zum Beispiel eine einfache Glückwunschkarte zum Geburtstag, damit er sieht, daß du ihn nicht vergessen hast, und überlasse es ihm dann, ob er darauf reagieren möchte oder nicht.
Ich wünsche dir genau wie meine Vorrednerin, daß ihr wieder einen Weg zueinander findet.
tl;dr:
Es ist kompliziert. Gib ihm genug Zeit und wenn du magst, nimm dann wieder ganz vorsichtig den Kontakt auf.