Sprich mit ihm, aber erzähle nur soviel, wie du möchtest.
Hallo,
ich lese sonst in diesem Forum nur still mit, möchte aber nun auch etwas dazu sagen.
Keiner kann entscheiden, was das Beste für jemanden ist. Aber derjenige kann es vielleicht selbst herausfinden, wenn er oder sie sich anschaut, wie andere damit umgegangen sind. Deshalb möchte ich dir kurz von mir erzählen und dir auch berichten, wie das meine Beziehung beeinflusst.
Ich bin im Alter von 14Jahren von einem damals sehr guten Freund vergewaltigt worden. Aus Angst und Scham hab ich niemandem davon erzählt, sondern so getan, als sei nichts gewesen. Das ging sehr lange ziemlich gut, ich hab nichtmehr dran gedacht und hatte auch sonst keine Beeinträchtigungen wie Albträume oder so.
Als ich meinen Freund kennenlernte war ich 18. Obwohl ich Männer eher als abstoßend empfand, war zwischen uns gleich eine große Vertrautheit. Wir haben sehr offen stundenlang über uns geredet. Wie sich eine Beziehung halt entwickelt, ist es schnell zu ersten Berührungen gekommen. Dabei haben wir beide festgestellt, dass ich dabei ziemlich abblocke und mich stark verkrampfe, sobald auch nur seine Hand in meine Nähe kommt. Er hat es erstmal nicht weiter kommentiert, wofür ich ihm sehr dankbar war. Dieses Gefühl von Angst und das Gefühl, sich wehren zu müssen, war auch für mich neu und ungewohnt. Und ich fand es natürlich ganz schrecklich, dass mein Unterbewusstsein ihn so ablehnte, während ich mich total in ihn verliebt hatte. Nach ein paar Wochen habe ich große Angst bekommen, dass er mich verlassen würde, wenn ich nicht bald "funktioniere". Ich habe mich selbst sehr unter Druck gesetzt, ihm die körperliche Zuwendung zu geben, die ihm in einer normalen Beziehung zustehen würde. Doch ich habs nicht geschafft, so sehr ich es auch wollte. Ich erinnere mich ganz genau an eine Situation, in der er mich ganz sanft beim Kuscheln gefragt hat, ob er mir meinen BH öffnen dürfe. Ich hab sofort ja gesagt, bin aber gleich danach in Tränen ausgebrochen, weil ich solche Angst vor seinen Berührungen hatte. Danach hab ich meinen ganzen Mut zusammengenommen und ihm erzählt, dass ich vor einigen Jahren etwas erlebt hätte, was mich heute belastet. Er müsse wissen, dass das mit uns keine normale Beziehung werden würde und dass ich selbst nicht garantieren könnte, dass ich funktioniere. Ich habe ihm keine Einzelheiten erzählt und das war auch erstmal gut so. Er hat mich dann gefragt, ob er mich in den Arm nehmen darf - und damit war das Thema erstmal erledigt.
Du hast Angst, dass dieses Thema eure Beziehung bestimmen würde und ihr ständig daran denken müsstet. Und dass er dich nichtmehr richtig anschauen und anfassen könnte. Die Angst hatte ich auch! Riesig sogar! Aber es war nicht so! Er hat mich im Alltag völlig normal behandelt. Bei zwischenmenschlichen körperlichen Angelegenheiten hat er immer darauf gewartet, dass ich den nächsten Schritt mache. Er hat mich immer erst dann angefasst, wenn ich ihn gestreichelt habe und hat sich auch sofort wieder zurückgezogen, wenn ich mich verkrampft habe. So haben wir uns Stück für Stück an das Miteinanderschlafen herangetastet. Mich erstaunt sehr, dass du nach so kurzer Zeit schon mit ihm schlafen möchtest. Ich hatte mir das damals auch gewünscht, aber geschafft haben wir es erst nach knapp zwei Jahren. Ich habe gelernt, ihm völlig zu vertrauen - und das hat er auch gelernt.
Wir sind nun 6 Jahre zusammen und genießen beide den Sex wirklich sehr - was ich damals niemals für möglich gehalten hätte. Er hat mir später erzählt, dass er sehr sehr froh war, von mir so früh eine Erklärung für dieses merkwürdige Verhalten zu bekommen. Er hatte schon einen Verdacht, bzw. die Befürchtung, aber hat natürlich den Fehler erstmal bei sich gesucht. Er war wohl schon recht verzweifelt, da er dachte, dass er der Auslöser für mein komisches Verhalten sei.
Erst vor einigen Monaten habe ich ihm im Urlaub in einem Brief beschrieben, was damals genau passier war. Ich habe es ihm freigestellt, ob er den Brief lesen möchte oder nicht. Wir haben ihn dann gemeinsam gelesen und kurz darüber gesprochen. Für ihn war es sehr schwer und er meinte, dass es ein schreckliches Gefühl der Hilflosigkeit sei, dass mir das damals passiert ist. Aber wir sind beide sehr glücklich miteinander und sehen dies als Teil unserer Beziehung. Wir sind auch beide der Meinung, (da schließe ich mich meinem Vorredner an), dass unsere Beziehung daran sehr gewachsen ist und sehr schnell eine große Tiefe bekommen hat. Wir haben sehr früh gelernt, genau auf uns zu achten und aufeinander Rücksicht zu nehmen und auch offen über Ängste, Wünsche und Probleme zu sprechen.
Deshalb mein Ratschlag an dich: Sprich schnell mit ihm, besser heute als morgen. Aber überlege dir vorher, was genau du ihm erzählen möchtest! Wenn dir das Thema unangenehm ist, du darüber noch nicht reden magst oder du Angst hast, reicht ja schon der Hinweis, dass es dir bei körperlicher Nähe nicht gut geht, weil du Angst hast, es aber nicht an ihm liegt. Damit kann er sicherlich schonmal viel anfangen und es hilft euch beiden, mit der Situation umzugehen.
Liebe Grüße,
Jule