15 Jahre (III)
Es verlief also scheinbar alles wieder in normalen Bahnen. Ich flirtet auch ein Bißchen mit ihr, wenn wir telefonierten. Es störte sie erkennbar nicht, sie sagte auch oft etwas nettes dazu, aber ich hatte nicht das Gefühl, dass es bei ihr richtig "funkte". Bestenfalls kamen - halb scherzhaft - solche Sachen wie: naja, wenn wir beide niemanden anderen finden, haben wir ja immer noch uns.
Dann rief ich an einem Sonntagabend Ende März wieder bei meiner Freundin an. Zu meiner Überraschung ging stattdessen ihr Bruder ans Telefon, der eigentlich nicht bei ihr wohnt. Ich fragte nach ihr, aber er sagte, sie sei im Krankenhaus. Ich dachte natürlich gleich an ihren Vater und fragte, ob ihm etwas passiert sei. Daraufhin erklärte ihr Bruder, nein, sie selbst sei im Krankenhaus, denn sie habe am vorangegangenen Freitag eine Hirnblutung erlitten, wohl wegen der Malformation. Daraufhin sei sie in ein künstliches Koma versetzt worden. Es sei ernst, wie es weitergehe sei völlig ungewiss. Mein erster Gedanke war natürlich, dass ich sofort zu ihr wollte, um sie zu sehen. Davon riet ihr Bruder mir aber ab. Man könne sie zur Zeit nicht besuchen, denn die Ärzte würde eine OP vorbereiten, um das Gefäß dauerhaft zu versiegeln. Also musste ich erst einmal auf neue Nachrichten warten. Diese waren aber weiterhin beunruhigend. Ihr Bruder rief mich einige Tage später an und hinterließ eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Danach sei ihr Hirndruck weiter gestiegen, die OP sei deshalb sogar abgesetzt worden. Ich hatte furchtbare Angst um ihr Leben. Und ich wusste nichts. Da ich ihren Bruder nur flüchtig kenne, habe ich seine Telefonnummer nicht und er hatte unglücklicherweise mit einer unterdrückten Nummer bei mir angerufen. Ich versuchte daher direkt bei der Klinik anzurufen, aber auf der Intensivstation wollte man mir keine Auskunft geben, weil ich kein naher Angehöriger bin. Schließlich konnte ich doch Kontakt zu ihrem Bruder herstellen, indem ich eine alte Email von ihr entdeckte, in der er in "cc" stand. (Es war so eine Nachricht, die man an seine besten Freunde verschicken kann, um ihnen "little known facts" mitzuteilen, wobei ich fast heulten musste, als ich zugleich dadurch erfuhr, dass ihr Lieblingsgericht Rippchen sind).
Die erlösende Nachricht kam dann vor etwa zwei Wochen, als ihr Bruder mir mitteilte, dass ihr Zustand sich bessere und sie langsam aus der Narkose geweckt werde. Anfang letzter Woche erfuhr ich dann, dass es ihr deutlich besser gehe und sie in eine Reha-Klinik verlegt werde. Dann bekam ich auch eine sms von ihr selbst, die jedoch mit dem Satz endete: "Ich rufe dich bald an. Im Moment kann ich noch nicht so gut sprechen." Sofort macht ich mir natürlich sorgen, dass sie eine Sprachbehinderung erlitten hatten. Diese Sorgen waren aber Gott sei dank ungerechtfertigt. Einige Tage rief sie mich endlich an. Und wir konnten uns ganz normal unterhalten. Es waren KEINE geistigen Defizite durch die Blutung entstanden. Sie erklärte mir, dass sie riesiges Glück gehabt habe, weil das Blut größtenteils in Bereiche des Kopfes geflossen sei, wo sich kein Gehirn befindet. Wir verabredeten uns für Sonntag, um sie in der Reha zu bersuchen.
Die Reise dorthin ist von Niedersachsen aus ziemlich weit. Ein alter Freund, den ich noch aus der Schulzeit kenne, hat mir jedoch angeboten, dass ich bei ihm von Samstag auf Sonntag übernachten kann, was ich dankend annahm, zumal ich ihn schon lange einmal wiedersehen wollte. Als ich am Samstagnachmittag dort angekommen war und ich zusammen mit seiner Ehefrau und seiner 2jährigen Tochter auf dem Balkon saß, fiel mir ein wie gerne ich eine Familie hätte ...
Am nächsten Tag fuhr ich dann endlich zu der Reha-Klinik. Ich war ein wenig erschöpft, als ich dort ankam, den die Klinik liegt in einer Hügellandschaft und ich bin das letzte Stück zu Fuß gegangen (ich hätte auch ein Taxi nehmen können, aber ich hatte einfach Lust mich zu bewegen). Am Empfang erhielt ich ihre Zimmernummer und die Dame dort beschrieb mir den Weg zu dem Zimmer meiner Freundin. Ich war sehr aufgeregt, denn ich wusste nicht genau, was mich erwartet. Vorher ging ich noch kurz auf eine Gästetoilette, um mich etwas zu waschen, denn ich war ein wenig verschwitzt wegen der Anstrengung. Dann fuhr ich in den dritten Stock und ging in ihr Zimmer. Sie sah etwas ramponiert aus, am Hals ein großes Pflaster auf dem Einschnittloch für die Intubation, einige Mal an dem Hals von Wasauchimmer, Einstichlöcher an den Armen wegen der Infusionen, es fehlten einige Haar, wo noch die Narbe der inzwischen entfernten Drainage war, aber für mich sah sie dennoch unglaublich bezaubernd aus. Wir nahmen uns in die Arme und unmarmten uns sehr, sehr lange. Sie erklärte mir dann, dass sie geistig völlig okay ist, was man auch sofort merkte, wenn man mit ihr sprach. Körperlich habe sie aber unter dem künstlichen Koma gelitten, da ihre Muskeln stark abgebaut hätten. Ich berührte ihre Beine und ihre Oberarme, um dies zu testen und es traf zu, sie waren ganz weich.
Wir entschieden uns dann zunächst draußen im Klinikpark spazieren zu gehen, denn es war ein sonniger Tag, der erste sonnige Tag nach langer Zeit. Sie hakte sich bei mir ein und so gingen wir zu der nächsten Parkbank. Dort unterhielten wir uns ein wenig, sie fragte nach meiner Reise. Irgendwie erwähnte ich dann, dass mich der Tag bei meinem guten Freund, wie er mit seiner Tochter gespielt und sie gefüttert hat und das Familienleben dort sehr berührt haben. Daraufhin meinte sie plötzlich: "Ich habe jemanden kennegelernt. Wir sind zusammen. Es war kurz bevor die Hirnblutung kam. Er hat mich während der ganzen Zeit, als es mir so schlecht ging, so rührend um mich gekümmert und war so fürsorglich. Ich bin in ihn verliebt." Ich sagte nichts. Dann sprachen wir nicht mehr über ihn. Sie halte sich wieder ein und wir gingen zur bis zur nächsten Bank. Wir verbrachten noch den ganzen restlichen Tag zusammen, redeten zusammen, sie war sogar schon wieder zu scherzen aufgelegt und konnte darüber lachen, als ich sagte: "Na Schneewittchen, wieder aufgewacht." (Sie steht auf so eine Art Humor). Zum Abschied nahm ich sie ganz, ganz lange in den Arm, so lange dass ich fast meinen Zug verpasste. Dann sagte ich: "Ich bin so froh, dass du lebst. Du bist einfach mein Lebensmensch." Sie sagte: "Danke, mein aller, allerbester Freund" und schloss mich nochmal in die Arme und wollte mich nicht loslassen.
Als ich mit dem Zug nach Hause fuhr,eine lange Reise durch viele verschiedene Landschaften, fiel mir ein Zitat von Thornton Wilder ein: "Das ist alles, was wir tun können: immer wieder von neuem anfangen, immer und immer wieder."
(So, obwohl es mir in den Fingern brannte viel mehr über meine Gefühle bei der Sache zu schreiben, die natürlich da waren, habe ich es nicht getan, weil mir die Erzählung so einfacht "besser" vorkam.)
Für Kommentare und Meinungen wäre ich dennoch sehr dankbar.
Viele Grüße, C.